LAUDATIO von Dr. Wolfram Knauer / Jazzinstitut Darmstadt
anlässlich der Verleihung des Hessischen Jazzpreises am 1.12.07 in Wiesbaden


Der Jazz, meine Damen und Herren, ist eigentlich eine Musik der offenen Ohren. Musiker stehen auf der Bühne, sie spielen mit anderen Musikern zusammen, sie improvisieren. Das alles geht nur, wenn man die Ohren offen hält, wenn man zuhört, was die anderen da machen, damit man reagieren kann, unterstützen, gegensteuern, seine eigene (musikalische) Meinung beitragen.

Offene Ohren und Glaubenskriege

Und doch gibt es auch im Jazz ... fast hätte ich gesagt "Glaubenskriege", wenn das nicht in unseren Zeiten ein so problematisches Wort wäre. Aber tatsächlich hat es etwas Ideologisches, wenn Anhänger des traditionellen Jazz und modernerer Stilrichtungen – um das einmal ganz allgemein zu fassen – sich um das Wesen des Jazz streiten.

Ich kenne da einen selbst schon in die Jahre gekommenen Musiker, Halbprofi, der gern bei Jazzkonzerten auftaucht und nörgelt, die da vorne spielten ja immer die gleiche alte - entschuldigen Sie meine Wortwahl, aber Sie kriegen heute auch ein wenig Jazzlingo zu hören - "Kacke", wobei er tatsächlich meint, dass die Musiker da vorne sich beispielsweise an harmonische oder formale Konventionen halten, nicht "freidrauflosrotzen", wie er es gerne hören würde.

Oder Studenten, die sich für einen Jazzstudiengang eingeschrieben haben, aber bei Aufnahmen Alexander von Schlippenbachs der Meinung sind, das sei doch nun wirklich kein Jazz mehr, das klinge doch eher wie Neue Musik - Sie wissen, die mit dem großem "N", die zeitgenössische europäische Musik. Wobei sie auf Nachfrage zugeben müssen, nie wirklich bewusst Neue Musik gehört zu haben. Es klingt halt schräg. Für ihre Ohren ...

Oberg + Wiesbaden

Der Jazz, meine Damen und Herren, ist eigentlich eine Musik der offenen Ohren. Und es gibt Musiker, die besitzen genau diese. Einen solchen ehrt das Land Hessen heute mit dem Hessischen Jazzpreis: den Pianisten, Improvisator, Organisator, Netzwerkaktivisten Uwe Oberg.

Ab und an will es der Zufall, dass der Hessische Jazzpreisträger ausgerechnet in der Stadt ausgezeichnet wird, in der er selbst am meisten wirkt. Das ist dann meist ein Glücksfall, weil Jazzmusiker ja nicht nur für ihre künstlerische Leistung ausgezeichnet werden, sondern oft genug auch dafür, dass sie musikalisch kommunikative Wesen sind. Und wo kommuniziert man mehr und besser als in seinem direkten Umfeld?!

Unterricht und Jazz-Initiation

Der Jazz ist mittlerweile eine auch akademische Kunst geworden, die man an Musikhochschulen lernen kann. Uwe Oberg hat diesen Weg nie beschritten, und zwar ganz bewusst nicht. Zu der Zeit, als ein Studium für ihn in Frage stand, war er der festen Meinung, sich dadurch die Kreativität zu verderben. Er hatte seit dem 7. Lebensjahr Klavierunterricht erhalten – klassisch, ein bisschen Boogie-Woogie zwischendrin –, und er hatte sich zusammen mit einem Freund nach dem Zivildienst in einem Terres-des-Hommes-Kindergarten ein Gewächshaus gekauft. Ach ja, vorangegangen war eine Gärtnerlehre. Also eigentlich ein klarer Lebensweg. Aber dann entschloss er sich Musiker zu werden.

Zum Jazz kam er, der heute in der freien Szene einen so guten Namen hat, über die swingenden Stilistiken. Seine Mutter hatte ihn 1977 mit zu einem Konzert in der Jahrhunderthalle genommen, bei dem die großen Stars des Swing und Mainstream auftraten, Ella Fitzgerald, Count Basie mit seiner Bigband und ... der Tastenvirtuose Oscar Peterson. Er sei einfach fasziniert davon gewesen, wie da dieser große, schwere, schwarze Musiker hinter dem Flügel saß und so enorme musikalische Energien freisetzte. So wollte er auch spielen!

Er traf die Sängerin Ute Jeutter, mit der er das Standardrepertoire des Jazz erkundete, aber auch ausgefallenere Sachen. Und er begann, wie er sich ausdrückt, "ideologischer" zu werden, in seiner Haltung zur Musik. Mit 14 hatte er Gitarre und E-Bass in Rockbands gespielt, nun bestand er darauf, dass der Gitarrist, mit dem er zusammenspielte, auf seinem Instrument nicht mehr verzerren dürfe, wie das im Rock üblich war, sondern dass er in einer saubereren Diktion zu spielen habe (also wie Wes Montgomery).

"Ideologisch" sagt Uwe Oberg, und das Wort werde ich noch ein paarmal benutzen. "Ideologisch", das steht auch dafür, für eine Zeitlang eine bestimmte Haltung ganz und gar zu verfolgen, sie als den einzig richtigen Weg zu sehen. Ideologen sind uns nicht unbedingt die liebsten Zeitgenossen, weil sie außer ihrer Meinung meist wenig gelten lassen. Sie werden gleich sehen, dass die verschiedenen "ideologischen" Phasen in Uwe Obergs musikalischem Leben aber durchaus wichtige Lernprozesse waren.

ARTist

Ideologisch, erzählte mir Uwe Oberg – und zwar mit ziemlich dankbarer Erinnerung –, ideologisch sei es zugegangen in der ARTist, der Kooperative New Jazz, in deren Kreis er 1983 gekommen sei, als es ihn nach Wiesbaden verschlug. Gleich zu Beginn habe man ihm dort entgegengeschleudert: Der Coltrane, das ist doch lange vorbei! Man muss neue Wege gehen!

Die ARTist hatte in jener Zeit für etwa 3 bis 4 Jahre einen Raum in der Friedrichstraße, in einem Haus, das dem Land gehörte, dem Sozialministerium, und das die Musiker für vielleicht 50 Mark im Monat mieten konnten. Der Raum fasste etwa 100 Leute, einen Flügel konnten sie sich auch irgendwann leisten. Das ganze war ein Probe- und Ausprobierraum für die Szene – stilistisch vom Bebop aufwärts –, außerdem ein selbstorganisierter Konzertsaal, in dem insbesondere die europäischen Free-Jazzer spielten: John Surman, Part of Art, Keith Tippett, Sunny Murray u.a.

Dann gab es irgendwann Ärger mit den Nachbarn und andere Gründe, die dazu führten, dass der Raum aufgegeben werden musste. Nun gab es keinen Auftrittsort mehr, keinen Probenraum mehr, und die Gemeinschaft der ARTist schrumpfte auf einen harten Kern. Später gab dann die Stadt der ARTist einen Probenraum, in dem sie noch heute wirkt.

In dieser ARTist also lernte Uwe Oberg die Auseinandersetzung mit freieren Spielarten, mit einer durchaus auch manchmal ideologisch geführten Diskussion über die Ästhetik der aktuellen improvisierten Musik. Ihn hätten die Diskussionen in der ARTist sehr beeinflusst, erzählte er mir, er habe alle Entscheidungen immer mitgetragen, und teilweise habe die ästhetische Auseinandersetzung auch zu seltsamen Entscheidungen seinerseits geführt: Beispielsweise hat er eine Zeitlang einfach nicht mehr auf den Tasten gespielt, sondern nur noch im Instrument.

Im Kreis der ARTist hat er dann auch begonnen sich für Neue Musik zu interessieren, die ihm von anderen Mitgliedern vorgespielt wurde. Und witzigerweise hat diese Auseinandersetzung mit Neuer Musik dann auch zu einer Beschäftigung mit der europäischen Tradition geführt: über Morton Feldman zu Ludwig van Beethoven.

Obergs Bands + Musik

Seine erste eigene Band hatte Uwe Oberg mit dem Bassisten Jörg Mühlhaus und dem Schlagzeuger Wolfgang Schliemann. Paul Bley stand da ein wenig ästhetischer Pate; sie spielten "Mr. Joy" von Annette Peacock und anderes.

An sich selbst und an seine Musik hat Uwe Oberg einen hohen Anspruch. Das ist wohl auch ein Grund für die langjährige Zusammenarbeit mit Georg Wolff und Jörg Fischer. Die drei kennen sich so gut, dass sie sich aufeinander verlassen können, auf ihr intuitives Einanderverstehen, auf die offenen Ohren der jeweils anderen Partner.

Ich habe Ihnen versprochen, das Wort "ideologisch" noch ein paar mal zu benutzen. Also: Eine ganze Weile sei er recht ideologisch an die Musik herangegangen, erzählte mir Oberg, nach dem Motto: "je abgefahrener, desto besser". Heute hat sich das ziemlich geändert. Ihm ist es heute wichtig, seine Musik zugänglich zu machen. Früher habe er klar getrennt: Ich hier, das Publikum da. Ich mache was ich machen will, die künstlerische Aussage steht im Vordergrund, egal was drüben ankommt. Inzwischen hat er gelernt, zu seiner eigenen Musik auf Distanz zu gehen, etwas gelassener zu sein. Früher hieß es: Bei jedem Konzert muss man das Ganze geben, alles sagen. Heute sieht er auch das lockerer. Er stellt bei sich eine wunderbare Ballance fest, die es heute gäbe zwischen seinem musikalischen Anspruch, den Möglichkeiten der Realisation und dem Kontakt mit dem Publikum.

Als Pianist spielt Uwe Oberg auf jeden Fall das ganze Instrument. Freies Spiel, Klangexperimente, konventionelle, swingende Passagen und horchende Improvisationen bestimmen den Höreindruck seiner Musik. Oberg ist ein virtuoser Pianist in dem Sinne, dass er die totale Kontrolle über die Klangmöglichkeiten des Flügels anstrebt und die unterschiedlichsten Anschlags- und Präparationsformen für seine Sache ausnutzt. Seine Musik wirkt dabei selbst in ihren virtuos-schnellen Partien im besten Sinne des Wortes "be-dächtig". Der Pianist scheint seine Ohren neugierig auf die unterschiedlichsten Klangeffekte zu richten, um mit diesen zu spielen, sie zu variieren, aus ihnen Neues zu entwickeln. Der Jazz - Sie entsinnen sich - ist eine Musik der offenen Ohren.

Wer sich im Jazz auskennt, der ist dann nicht erstaunt über die Namen, die Oberg nennt, wenn man ihn fragt, wer von jenen, mit denen er zusammengearbeitet hat, ihn denn besonders beeinflusst habe: Heinz Sauer, Alfred Harth, Peter Kowald, Tony Oxley. Die hätten ihn durch ihre Spielhaltung, vielleicht auch durch ihre ästhetischen Haltungen, ihren eigenen Anspruch, fasziniert. Und zugleich habe er durch sie auch gelernt, dass selbst diese Heroen, zu denen er immer aufgeschaut habe, nur mit Wasser kochen.

Andere Kulturen / Musikerprojekte

Uwe Oberg hat immer wieder mit Improvisatoren und Improvisatorinnen aus anderen Kulturen zusammengespielt. Bei denen faszinierte ihn besonders, dass die in ihrer Improvisation klare Wurzeln hatten, dass sie auf lange Traditionen zurückblicken konnten. Bevor wir uns zum Vorgespräch in Darmstadt trafen, hatte Oberg im Auto eine CD mit Musik von Lester Young gehört und er erzählte mir, wie er sich dabei gedacht hätte: So würde ich auch gerne spielen, mit dieser Sicherheit der Wurzeln, der musikalischen Verbundenheit zur eigenen Tradition. Vielleicht erklärt sich daraus seine Hinwendung zu biographischen Musikerprojekten, die er Thelonious Monk, Steve Lacy, Herbie Nichols oder Charles Mingus widmete. Wobei er mir in Bezug auf diese Projekte noch eine weitere Seite seines Herangehens an Musik offenbarte: In diesen Projekten sei es ihm viel leichter gefallen, konventionell zu spielen, weil das ja nun mal nicht seine eigene Musik, sondern die von anderen gewesen sei. Es sei ein Abarbeiten an ihrer Musik gewesen, zugleich eine Art sehr intensives Studium, etwa, wenn er Steve Lacys Linien, die ja nun klar keine Klaviermusik sind, auf die Besetzung des Lacy Pool übertragen hätte.

Sie entsinnen sich, Musik hatte er nicht studieren wollen, um sich die Kreativität nicht zu verderben. Vielleicht ist seine Musik für ihn das wirkliche Studium.

Ich habe zwei Seiten ausgespart, die es zumindest zu erwähnen gilt, und ich war selbst erstaunt, wie geradlinig sich auch dort, wo ich es gar nicht vermutet hatte, dieser Prozess zwischen ideologischer Haltung (also: erst einmal das Extrem ausprobieren) und dem Finden der eigenen Position zeigt.

Stummfilmbegleitung

Da ist zum einen die Stummfilmbegleitung. Das Deutsche Film Institut hier in Wiesbaden hatte Oberg gebeten, einen Film begleiten. Und anfangs habe er auch dabei keine Kompromisse machen wollen ("ideologisch"). Er wollte auf keinen Fall konventionelle Stummfilmklischees bedienen, sondern unbedingt etwas Eigenes machen. Er wollte sich eigentlich auch nicht zu sehr vom Film beeinflussen lassen in seiner Musik, sondern eher wie ein musikalisch gleichberechtigter Partner zum anderen Kunstprodukt auftreten. Mehr und mehr aber hat er dann später doch direkt auf den Film reagiert, und genießt heute genau das: das Dreieck Film - Publikum - Uwe Oberg.

Konzertveranstalter

Und last not least: Oberg, der Konzertveranstalter

Von 1996 bis 1999 lebte Uwe Oberg in Köln, wo er aber nie richtig Fuß fasste. Nach seiner Rückkehr zog er die Konzertreihe "just music" auf, die anfangs im Caligari Kino stattfand. Für sie konnte er Musiker einladen, auf die er selbst neugierig war. Das lief sehr erfolgreich an, dann gab es Einbrüche, beim Publikum, aber auch von Seiten der Stadt, die das Caligari nicht mehr als allgemeines Kulturzentrum, sondern vor allem als Kino nutzen wollte. Man reiste dann ein wenig rum, probierte verschiedene Spielorte aus, und irgendwann entschloss er sich, die Konzerte zu einem Festival zusammenzufassen, "just music", für das vor allem Oberg und Raimund Knösche das Programm zusammenstellten. Das war eine wunderbare Erfahrung, erzählt Oberg, einen Partner dabei zu finden, der sich für dieselbe Musik begeistert, aber auch andere Facetten mit einbringt. Und mit diesen Veranstalteraktivitäten schließt sich dann der biographische Kreis ein wenig: Oberg, der durch Konzerte dazu kam, seine eigene musikalische Kreativität zu entdecken und zu entwickeln, hat daneben nie vergessen, dass es für ihn auch wichtig ist zuzuhören, sich zwischendurch einfach als Fan zu verstehen.

Hessischer Jazzpreis

Das Land Hessen, meine Damen und Herren, ehrt mit Uwe Oberg, wie es in der Jurybegründung heißt, einen Musiker, der sich seit über zwei Jahrzehnten in den eher sperrigen Sphären des zeitgenössischen Jazz bewegt, dessen Geschichte er genauso schätzt wie seine improvisatorischen Herausforderungen. "Oberg", heißt es wortwörtlich in der Jurybegründung, "ist dabei ein Musiker mit offenen Ohren – bei allen seinen Begegnungen spürt man den Respekt, den er der musikalischen Umwelt entgegenbringt, der andere Menschen entstammen und die im Moment des Zusammenspiels auch Teil seiner Erfahrung werden." Offene Ohren sind nicht nur eine musikalische Gabe, sie sind im alltäglichen Leben wünschenswert. Weil sie Zuhören fördern, Verständnis, Respekt, Neugier, Kreativität.... Der Jazz ist da vielleicht tatsächlich mehr als nur Musik, er ist – diesmal im besten Sinne des Wortes – auch eine Ideologie: eine Ideologie des kreativen Lebens und Miteinanderlebens.

Vielen Dank!